Rätsel der Wissenschaft

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Der STANDARD-Podcast über die ungeklärten Fragen der Menschheit

Warum konnte die Physikerin Marietta Blau in Österreich nie Karriere machen? | Inside Science

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Als 1937 von einem Hochgebirgsobservatorium nahe Innsbruck eine Serie unscheinbarer Fotoplatten zur Auswertung gebracht wird, ahnt noch niemand, dass damit ein neues Kapitel der Physik beginnt. Die Platten zeigen sternförmige Spuren – mehrere Teilchenbahnen, die von einem gemeinsamen Zentrum ausgehen. Es sind die ersten direkten Nachweise sogenannter "Zertrümmerungssterne": Kernreaktionen, ausgelöst durch hochenergetische Teilchen aus dem Weltraum.

Das Experiment stammt von der Wiener Physikerin Marietta Blau. Gemeinsam mit ihrer Mitarbeiterin Hertha Wambacher hat sie eine Methode perfektioniert, mit der Kernreaktionen erstmals direkt sichtbar werden. Diese fotografische Technik sollte zu einer Grundlage für die moderne Hochenergie- und Teilchenphysik werden. Doch während das Forschungsfeld regelrecht explodiert und schon wenige Jahre später neue Elementarteilchen entdeckt werden, wird Blau aus der Wissenschaft gedrängt – und weitgehend vergessen. In der ersten Folge von "Inside Science", einer Spezialausgabe des STANDARD-Podcasts "Rätsel der Wissenschaft", beleuchten David Rennert und Tanja Traxler das Leben von Marietta Blau und analysieren mit der Physikerin Francesca Ferlaino die Situation von Frauen in der Physik.

Hürden für Frauen

Marietta Blau wird 1894 in Wien in eine jüdische Familie geboren. Für Frauen wird der Zugang zu österreichischen Universitäten erst 1897 geöffnet, Hürden bleiben aber noch lange bestehen. Blau kann auf die Unterstützung ihrer Familie zählen und besucht die erste Schule, die Mädchen auf die Matura vorbereitet. 1919 promoviert sie an der Universität Wien in Physik und findet am renommierten Institut für Radiumforschung wissenschaftliche Mentoren.

Das Institut ist für seine Zeit vergleichsweise offen gegenüber Frauen – allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung: Forscherinnen arbeiten dort weitgehend unbezahlt. Auch Blau hat keine feste Stelle und erhält kein Gehalt, sie finanziert sich über Stipendien und familiäre Unterstützung. Trotz der prekären Bedingungen stürzt sie sich in die Arbeit – und baut bald einen eigenen Forschungsschwerpunkt auf. Zu diesem Zeitpunkt ist bereits bekannt, dass Atomkerne zerfallen und Teilchen dabei Energie übertragen. Direkt beobachten kann man diese Prozesse aber kaum. Blau will die Vorgänge sichtbar machen und entwickelt in den 1920er-Jahren mit großer methodischer Akribie die fotografische Methode zur Teilchendetektion. Dazu experimentiert sie mit "Fotoemulsion" – sie stellt spezielle Fotoplatten mit einer Gelatineschicht und Silberbromidkristallen her und variiert unterschiedliche Faktoren in langwierigen Untersuchungen.

Entdeckung der Zertrümmerungssterne

Tatsächlich gelingt es ihr, einzelne Teilchenereignisse sichtbar und messbar zu machen. Sie zeigt, dass Spur­längen und Abstände in Emulsionen Rückschlüsse auf Energie und Art der Teilchen erlauben. Blaus Arbeiten werden international rezipiert, sie gilt bald als führende Expertin dieses neuen Verfahrens. Dennoch bleibt ihr der akademische Aufstieg verwehrt. Eine Habilitation wird Blau in Wien nicht ermöglicht – als Frau und als Jüdin ist sie in den in den 1920er- und 30er-Jahren doppelter Diskriminierung ausgesetzt. Der wissenschaftliche Höhepunkt von Marietta Blaus Forschung, die Entdeckung der Zertrümmerungssterne 1937, fällt in eine angespannte Zeit. Der Antisemitismus, seit Langem an den österreichischen Hochschulen virulent, hat auch das Radiuminstitut erreicht. Mehrere langjährige Mitarbeiter des Instituts sympathisieren mit der NSDAP oder sind illegale Mitglieder der Nazi-Partei – auch Blaus um neun Jahre jüngere Mitarbeiterin Hertha Wambacher.

Kurz vor der Veröffentlichung der Zertrümmerungssterne wird Blau dazu gedrängt, Wambacher als Erstautorin der Publikation anzuführen. Zeitgenössische Briefe zeigen, dass Kolleginnen wie Berta Karlik und der Physiker Hans Pettersson dies entschieden ablehnen und antisemitische Motive vermuten. Blau besteht auf der korrekten Autorenschaft – die Zusammenarbeit mit Wambacher ist damit vorbei. Während sich die politische Lage in Österreich zuspitzt, sorgen sich Fachkollegen zunehmend um Blau. Albert Einstein bemüht sich, eine Stelle für sie im Ausland zu finden.

Flucht über Oslo

Monate später nimmt Marietta Blau die Einladung für einen Forschungsaufenthalt in Oslo an und hat enormes Glück: Sie reist am 12. März 1938 in Wien ab – just am Tag, an dem die deutsche Wehrmacht unter dem Jubel großer Teile der Bevölkerung in Österreich einmarschiert. "Man wusste in Wien bis zum letzten Moment nicht, was uns bevorstand, und mir kamen erst auf der Reise die deutschen Truppen entgegen und erst da wusste ich, dass man alle Hoffnung aufgeben musste. Ich weiß jetzt nicht, ob ich jemals zurückkommen kann oder als Flüchtling behandelt werde und bin natürlich ganz verzweifelt", schrieb sie einige Tage später in einem Brief. Oslo ist nur die erste Station in Blaus Exil. Dank Albert Einsteins Vermittlung erhält Blau eine Professur in Mexiko-Stadt, dorthin rettet sie sich und ihre Mutter vor der Verfolgung – verliert aber den Anschluss an ihr Forschungsfeld. An Teilchenphysik ist in Mexiko mangels Ausstattung nicht zu denken, sie muss sich vorwiegend mit Lehrtätigkeit begnügen. Erst ab 1948 kann Blau in den USA wieder an Hochenergiephysik arbeiten, zunächst an der Columbia University, später am Brookhaven National Laboratory. Doch das Zentrum des Feldes liegt nun anderswo.

1950 erhält der britische Physiker Cecil Powell den Nobelpreis für die Entwicklung fotografischer Methoden in der Teilchenphysik – also jenes Gebiet, das Blau begründet hat. Sie wird weder vom Nobelkomitee noch von Powell erwähnt, der ihre Arbeiten nicht nur kennt, sondern darauf aufgebaut hat. Blau selbst wird insgesamt fünfmal für einen Nobelpreis nominiert – ohne Erfolg. Ihre erzwungene Emigration, ihre jahrelange wissenschaftliche Isolation und die systematische Marginalisierung ihrer Beiträge wirken nach. Als Blau 1960 nach Wien zurückkehrt, arbeitet sie erneut ohne Anstellung am Radiuminstitut. Im offiziellen Österreich interessiert sich niemand für die Forscherin. Sie stirbt 1970 verarmt und weitgehend vergessen. Ihre Rolle als Pionierin in der Physik wird erst viele Jahrzehnte später gewürdigt. Als Blau 1960 nach Wien zurückkehrt, arbeitet sie erneut ohne Anstellung am Radiuminstitut. Im offiziellen Österreich interessiert sich niemand für die Forscherin. Sie stirbt 1970 verarmt und weitgehend vergessen. Ihre Rolle als Pionierin in der Physik wird erst viele Jahrzehnte später gewürdigt.

Damit ist Marietta Blau kein Einzelfall. Bis heute haben nur fünf Frauen einen Nobelpreis in Physik erhalten, während bahnbrechende Forscherinnen wie Blau oder Lise Meitner leer ausgingen. Die Physikerin Francesca Ferlaino von der Unuversität Innsbruck sieht darin kein historisches Einzelversagen, sondern ein Muster: "Ich glaube nicht, dass es eine bewusste Absicht gibt, Wissenschaftlerinnen zu schaden. Aber es gibt einen kulturellen Hintergrund und unbewusste Vorurteile – und die sind sehr schwer zu quantifizieren." Gerade diese Unsichtbarkeit mache Diskriminierung so wirksam. Für Ferlaino ist klar, dass Anerkennung in der Wissenschaft bis heute ungleich verteilt ist – bei Karrieren ebenso wie bei wissenschaftlichen Auszeichnungen. "Ich habe mir immer gedacht, die Situation ist schlecht – aber sie ist noch viel schlimmer, als ich erwartet habe", sagt die Physikerin mit Blick auf aktuelle Daten zu Frauen in der Physik.

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